Joseph Haydns verschwundener Schädel
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Der große Komponist Josef Haydn hatte ein bemerkenswertes, langes Leben. Geboren in eine einfache Familie im niederösterreichischen Rohrau, wurde er nach einer Ausbildung zum Chorsänger in Wien und einigen beschwerlichen Jahren als freier Musiker schließlich Musikdirektor des Grafen Morzin in Pilsen und später Kapellmeister der Esterházys in Eisenstadt. Beinahe dreißig Jahre verblieb er in den Diensten der Fürstenfamilie und verfasste eine Vielzahl von Kompositionen – Sinfonien, Streichquartette, Klaviersonaten und andere. Nach dem Tod seines Arbeitgebers Fürst Nikolaus ging Haydn nach England, wo er eine Reihe erfolgreicher Konzertreisen absolvierte und zu einem regelrechten Star der damaligen Musikwelt avancierte.
Dennoch kehrte Haydn nach Wien zurück, kaufte ein Häuschen in der Vorstadt und verstarb, weitere sechzehn Jahre später, in denen er unter anderem seine bekanntesten Oratorien schrieb, im Jahre 1809, als die Napoleonischen Truppen gerade daran gingen, die Stadt einzunehmen. Noch an seinem Todestag hatte sich „Papa Haydn“, wie ihn seine Hausangestellten nannten, auf den Klavierstuhl heben lassen, um, Patriot bis zuletzt, die von ihm komponierte „Kaiserhymne“ zu spielen. Napoleon jedoch, der sich Haydns Bedeutung bewusst war, befahl, sein Haus zu verschonen und Haydn ein bescheidenes, aber ordentliches Begräbnis zukommen zu lassen. Heute gilt Joseph Haydn, gemeinsam mit Mozart und Beethoven, als einer der Väter der Wiener Klassik.
Noch bemerkenswerter als dieser Lebenslauf, dabei weit weniger bekannt, ist jedoch die Geschichte seines verschwundenen Schädels. Eine Geschichte, die mit dem Ablauf von Joseph Haydns Lebenszeit erst ihren Anfang nimmt.
Wenige Tage nach Haydns Beerdigung auf dem Hundsturmer Friedhof nämlich, wurde sein Grab wieder geöffnet, sein Schädel vom Leib abgetrennt und entwendet. Der Diebstahl wurde erst elf Jahre später entdeckt, als Haydn in die Bergkirche nach Eisenstadt überführt werden sollte und man seinen Leichnam kopflos vorfand. Als Auftraggeber des Diebstahls gilt ein gewisser Karl Rosenbaum, welcher nicht nur der ehemalige Sekretär des Fürsten Esterházy war, sondern auch ein glühender Verehrer des Wiener Gelehrten Franz Joseph Gall. Sinn und Zweck der Tat war es gewesen, den Schädel des berühmten Komponisten einer Untersuchung zuzuführen, um an ihm den „Thonsinn“ (heute würde man wohl sagen: die Musikalität) zu lokalisieren.
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Franz Joseph Gall, geboren 1758 in Tiefenbronn bei Pforzheim, kam nach dem Medizinstudium in Straßburg im Jahr 1781 nach Wien, wo er eine Privatpraxis eröffnete und seine Tätigkeit als Praktischer Arzt aufnahm. Dabei beschäftigte er sich vornehmlich mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns, erkannte, dass verschiedene Hirnregionen verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben und entwickelte schließlich die sogenannte „Schädellehre“. Sich selbst bezeichnete er als Craniologe oder Organologe, denn er war der Überzeugung, im Gehirn 27 „Organe“ entdeckt zu haben, welche die menschlichen Grundeigenschaften verkörperten – vom Fortpflanzungsinstinkt (#1) über Besitzgier (#7) bis zu Gottesglaube (#26) und Beharrlichkeit (#27). In einer Ausgabe des Brockhaus aus dem Jahr 1837 ist über Galls Lehre zu lesen: „Nach dieser ist das Gehirn der Hauptsitz der Seele und die Eigenschaften der Seele drücken sich zum Theil schon äußerlich in der Form des Schädels aus, sodaß man aus den Erhöhungen (Organen), welche der menschliche Schädel zeigt, auf die Eigenschaften der Seele des einzelnen Menschen schließen kann.“ Schon 1809 schreibt der Brockhaus bezüglich Gall: „Denn er meint, dass der Theil des Gehirns, in welchem die Geistesverrichtung vorsticht, die Schädelmasse nach außen treibt und auf der convexen Seite des Schädels eine Erhabenheit bildet, die er Organ nennt. Die Benennung dieser Organe wird dann von der Fähigkeit oder der Leidenschaft selbst entlehnt.“ Gall war also der Überzeugung, dass die Form der Schädelknochen direkte Rückschlüsse auf die Gehirnfunktion eines Menschen (und seine Seele) zuließen. Buckel deuteten besonders ausgeprägte Gehirnpartien an (erzeugt durch den Druck des darunterliegenden Hirnareals), Vertiefungen weniger ausgeprägte, unterentwickelte.
Zu Untermauerung seiner Thesen sammelte Gall Totenschädel, „meist von Irrsinnigen oder Verbrechern“ und fertigte Gipsbüsten besonders auffälliger oder prominenter Personen an. Er entwickelte Techniken, die es ihm erlaubten, durch Befühlen und Betasten des Kopfes die fundamentalen Talente und Charakterzüge eines Menschen zu erkennen. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Wien veranstaltete er äußerst erfolgreiche und lukrative Privatvorlesungen in seinem Schädelkabinett.
Karikatur Franz Joseph Galls in seinem Schädelkabinett, T. Rowlandson, 1808
Dennoch war Gall umstritten, sein wissenschaftlicher Ansatz stand in krassem Widerspruch zur Katholischen Lehre, der Papst setzte seine Schriften auf den Index. (Gall lehnte noch am Sterbebett den Beistand eines Geistlichen ab und untersagte die Einsegnung seines Leichnams.) Im Jahr 1802 erließ Kaiser Franz II. ein Edikt, in dem er Galls Lehrtätigkeit untersagte: „Da über diese neue Kopflehre, von welcher mit Enthusiasmus gesprochen wird, vielleicht manche ihren eigenen Kopf verlieren dürften, diese Lehre auch auf Materialismus zu führen, mithin gegen die ersten Grundsätze der Religion und Moral zu streiten scheint, so werden Sie diese Privatvorlesungen alsogleich verbieten lassen.“ Dieser kaiserliche Urteilsspruch zwang Gall dazu, 1805 Wien zu verlassen und sich auf Tournee durch Deutschland zu begeben. 1807 schließlich ließ er sich in Paris nieder, wo er seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm und die Schädellehre weiterentwickelte.
Als Gall im Jahr 1825 zur Einsicht gelangt war, dass er nie wieder nach Wien zurückkehren würde, vermachte er jenen Teil seiner Schädelsammlung, den er in Wien hatte zurücklassen müssen (immerhin an die 120 Schädel und Büsten), seinem Freund, dem Badener Wundarzt Anton Rollett. In dem nach ihm benannten Rollettmuseum ist ein Teil davon noch heute zu besichtigen.
Von den Gall'schen „Organen“ bestätigte sich letztlich nur ein einziges: das Sprachzentrum. Dennoch darf man nicht vergessen, dass Gall mit seiner Lehre die Grundlage für die moderne Hirnforschung schuf.
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Joseph Haydn ruhte über viele Jahrzehnte unvollständig in seinem Grab und es sollte bis zum Jahr 1954 dauern, bis der Schädel, der nach wechselndem Besitz 1895 zur Gesellschaft der Wiener Musikfreunde gelangt war, endlich in einer feierlichen Messzeremonie mit seinem rechtmäßigen Besitzer wiedervereint werden konnte. Eine besonders ausgeprägte Musikalität ließ sich, trotz intensiver Bemühungen, an seinem Schädel nicht feststellen.
Der blinde Bildhauer Gustinus Ambrosi (1893–1975) legt Joseph Haydns Schädel in den Sarg. Foto: USIS
Franz Joseph Gall, Lithographie von Zephiren Belliard
Fiktive Episoden aus Franz Joseph Galls Leben finden sich in meinem Roman SAMMLER und dem Blogtext EIN NEUER LEICHNAM.
Christoph Mayr, September 2018