Die Frau im Fenster

Wer wie ich in Tirol aufwächst, ist eingebunden in einen strikten Kalender, mit wiederkehrenden Festlichkeiten, Ritualen und (meist katholisch geprägten) Traditionen. Naturgemäß sind Kinder, die in ihrer Lebensgestaltung noch wenig frei sind, solchen Traditionen eher ausgeliefert als Erwachsene. Man verkleidet sich, wenn alle Fasching feiern; man isst am Karfreitag kein Fleisch, weil keines auf den Tisch kommt; man sammelt trockene Blätter und Kastanien im Herbst, Glockenblumen und Löwenzahn im Frühling und malt, wie im Religionsunterricht gefordert,  Jona im Bauch des Wals. Kein Kind wagt, das für alle Vorgesehene zu boykottieren, man hinterfragt es nicht, auch wenn es sich unangenehm anfühlt oder einfach unnütz scheint. Freilich, Feste können sehr schön sein, sie geben Anlass zur Vorfreude, auch das Eingebunden sein in einen geregelten Jahresablauf hat Vorteile, es gibt Halt und gliedert ein sonst womöglich ziellos mäanderndes Leben.

In meiner Gemeinde Absam, einem Wallfahrtsort, gab es noch eine weitere, ortsspezifische Tradition, einen Fixpunkt im Schulalltag eines jeden Kindes. Es war der sich alljährlich wiederholende Besuch der Marienerscheinung in der Absamer Kirche. Bei dieser Erscheinung handelt es sich um ein kaum mehr als handgroßes Glasbild, das ein fein lächelndes, orientalisch anmutendes Frauengesicht in schwarz-weiß zeigt. Das Gesicht der Muttergottes. Dieses Bild gilt, neben der Maria von Guadalupe, wo noch heute der Umhang des Juan Diego besichtigt werden kann, als einzige „stoffliche Hinterlassenschaft“ der Gottesmutter weltweit. Dennoch ist sie überregional nicht berühmt und von der Katholischen Kirche nicht als Wunder anerkannt. Das Bildnis ist an einem Seitenaltar in der Absamer Pfarrkirche ausgestellt.

Aus heutiger Sicht scheint mir vielsagend, dass uns Kindern vermittelt wurde, nur wer vor dem Altar niederkniee, seinen Kopf senke und von unten zum Altar hochblicke, vor allem aber, wer reinen Herzens sei, könne das Bild sehen. Im Nachhinein betrachtet eine wirksame Methode, uns Kindern die erwünschte Ehrfurcht vor dem Bildnis (und der Gottesmutter) einzupflanzen. Wir knieten also nieder, fühlten uns fromm und reinen Herzens und sahen – nichts. Das Bild war so klein, so weit weg und versank inmitten des riesigen Altars in einer derart überbordenden, golden-barocken Pracht, dass es uns schwer fiel, das winzige Glas überhaupt zu finden, geschweige denn ein Gesicht darin zu erkennen. „Liegt es an mir?“, dachte ich entsetzt. „Mag mich die Muttergottes etwa nicht?“ Natürlich war während der Besuche im Klassenverband nie die Zeit, sich vor dem Altar neu zu positionieren, einen anderen, vielleicht besseren Sichtwinkel einzunehmen, denn von hinten drängten schon die nächsten Kinder, die ebenfalls ihr Glück versuchen und die Jungfrau Maria erblicken wollten. Auch sie meist vergeblich.

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Die Bild erscheint an einem Jännernachmittag des Jahres 1797, in einem straßenseitig gelegenen Winterfenster des Hauses der Familie Bucher. Man verständigt den Ortspfarrer Waginger, der zunächst ratlos ist. Über eines jedoch ist man sich einig: Die Frau im Fenster muss die Muttergottes sein. Ein Gnadenbild! Wenige Tage später reist der Dekan aus Innsbruck an, in Begleitung des Gerichtspflegers von Thaur (dem damaligen Sitz der Gerichtsbarkeit), eines Glasermeisters aus dem Nachbarort Hall und des Dorfmeisters von Absam. Während sich vor dem Erscheinungshaus „eine große Volksmenge“ ansammelt, wird in der Stube das Bild begutachtet. Man versucht, es abzuwaschen, doch es erscheint wieder. Nachdem kein befriedigendes Ergebnis erzielt werden kann, wird der Fensterflügel aus dem Fenster gehoben, in ein Leintuch gepackt, mit drei Siegeln versehen und nach Innsbruck gebracht. In der Wohnung des Dekans wird das Bildnis auf Befehl des Fürstbischofs von Brixen und des Tiroler Guberniums im Februar 1797 unter dem Vorsitz des Dekans zum zweiten mal untersucht. Mitglieder der Untersuchungskommission sind u.a. ein Mathematiker, ein Chemiker, ein Maler, der Bürgermeister von Innsbruck, Pfarrer Waginger und ein Glasermeister. Wieder wäscht man das Bild, wieder erscheint es. Da es sich jedoch abreiben lässt, ist für die Kommission erwiesen, dass es sich hierbei um kein echtes Wunder handeln kann. Man nimmt an, das Bildnis sei durch das Wiederaufscheinen eines alten Glasgemäldes zum Vorschein gekommen. Einzig der Dekan hat Zweifel an dem Untersuchungsergebnis.

(Uns Kindern wurde erzählt, die Untersuchung habe unter dem „schlechten Geist der Aufklärung“ stattgefunden. Wer verlangen würde, ein abgeriebenesMarienbild müsse wieder aufscheinen, verlange nichts weniger als ein zweites Wunder!)

Trotz der Bitte der Buchers, das Bild wieder mitnehmen zu können, wird es in der Wohnung des Dekans verwahrt. Erst als ein regelrechter Aufstand der Absamer droht, gibt der Dekan das Marienbild an die Familie Bucher zurück. Doch es verbleibt nicht lange in ihrem Haus. Über die nachfolgenden Ereignisse verfasste Johann Bucher im Alter von sechsundsiebzig Jahren einen ausführlichen Bericht. Darin ist zu lesen: „Es war eben der Kriegssturm in unser Tirol eingebrochen, und die Bauern standen zum Kampfe für Gott, Kaiser und Vaterland bereit. Groß war ihr Vertrauen auf den Schutz der Heiligen Jungfrau. Sie nahmen das Bild und trugen es wie im Triumphe mit den Worten Wo der Sohn ist, muss auch die Mutter sein in die Kirche, wo es bis auf den heutigen Tag zur Verehrung aufgerichtet ist.“

Die Absamer hatten ihren Willen unter Androhung von Gewalt durchzusetzen gewusst. Darüber hinaus hatten sie sich geweigert, sich fortan dem Landsturmanzuschließen – eine durchaus ernstzunehmende Drohung, denn Napoleons Truppen standen wieder an den Grenzen des Landes. Den erst kurz zuvor errungenen Sieg der Tiroler bei Spinges (Südtirol) am 2. April 1797 glaubte man dem Absamer Gnadenbild zu verdanken. Es waren die bewaffneten Heimkehrer gewesen, die der Forderung nach der Übersiedlung des Bildes in die Kirche Nachdruck verliehen hatten. Trotz weiterer Interventionen von weltlicher Seite und einer an Desinteresse grenzenden Zurückhaltung der Katholischen Geistlichkeit, blieb das Marienbild in der Absamer Kirche. Erst später wurde es vom Bischof „zur Verehrung freigegeben“ – bis heute der offizielle Status.

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Wenn ich dieser Tage vor dem Seitenaltar in Absam stehe, fällt es mir merkwürdig leicht, das kleine, graue, zur Seite geneigte Gesicht der Frau im Fenster auszumachen. Vielleicht mag mich Maria ja inzwischen.

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