Mein Gauermann
1
In dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es ein unscheinbares, kleines Ölbild, das in einem schlichten Goldrahmen über dem Bücherregal im Wohnzimmer hängt. Von klein auf war es für mich bloß ein ins gewohnte Umfeld passendes Accessoire, es gehörte zwar dazu – genau wie der Couchtisch, die Sitzecke und die zwei alten Bauerntruhen – aber ich beachtete es kaum.
Mein Vater hingegen hielt dieses Bild Zeit seines Lebens für ein Werk des bekannten Biedermeier-Malers Friedrich Gauermann (1807 - 1862). In einem Ausstellungskatalog glaubte er auch die passende Ölskizze – zu der es offiziell kein vollendetes Gemälde gibt – entdeckt zu haben. Die Ähnlichkeit des Bilds mit der Skizze ist tatsächlich verblüffend: das Motiv – Hirten führen Kühe zum Bach – ist das selbe, der Bildaufbau stimmt weitgehend überein, das rote Halstuch des dargestellten Mädchens, die Berge, Felsen und Bäume sind typische, zu Gauermann passende Bildelemente, kurz, das Gemälde würde sich problemlos in sein Œuvre einfügen. In ausgerahmtem Zustand sei, so mein Vater, am untersten Rand der Leinwand sogar eine Unterschrift zu erkennen – F. G., die Initialen des Meisters!
Andererseits weicht das Bild von der Skizze in einigen, nicht unwichtigen Details ab: Aus zwei Laubbäumen im Zentrum wurde ein einziger, hinter welchem eine Ziege steht anstatt einer Kuh, im Hintergrund sind schneebedeckte Berge zu sehen, die auf der Skizze fehlen etc. Und doch nutzte mein Vater eben diese Abänderungen als Argument zu seinen Gunsten – denn welcher Epigone, welcher Plagiator oder gar Fälscher würde, wollte er Gauermann nachahmen, von dessen Skizze so weit abweichen und damit die ihr innewohnende Kraft, den Genius Gauermanns, abschwächen? So etwas würde nur der Künstler selbst wagen! Mehr noch – eine Änderung der skizzierten Werkvorlage sei üblich im kreativen Prozess vieler Künstler.
Mein Vater weigerte sich hartnäckig, etwaige, von Freunden und Verwandten geäußerte Zweifel an der Urheberschaft des Bildes auszuräumen und dessen Authentizität durch eine fachlich versierte Person, einen Gauermann-Liebhaber, einen Sammler o.ä. bestätigen zu lassen. Er wolle gar nicht wissen, ob das Bild authentisch sei, so wiederholte er, denn ein Verkauf stünde ohnehin nicht zur Debatte und die ausstehende, offiziell bestätigte Echtheit würde seine Schönheit auch nicht mindern. Der wahre Erschaffer des Bildes blieb also im Dunkeln.
Später, als eine gewisse Altersmilde manche Standpunkte meines Vaters aufweichte, erlaubte er meiner Schwester, das Bild mitzunehmen und einem Fachmann aus dem Niederösterreichischen Landesmuseum, das über eine ansehnliche Sammlung Gauermann'scher Werke verfügt, vorzulegen. Kein Gauermann, so seine Expertise, vielleicht das Werk eines Schülers.
Mein Vater nahm das Urteil gelassen entgegen. Das heißt, er ignorierte es vielmehr und ließ sich von seiner Überzeugung, einen echten Gauermann zu besitzen, nicht abbringen. Das Bild blieb unbehelligt an seinem Platz im Wohnzimmer und hing weiter im Zigarettenrauch der Einladungen und Festivitäten, die in unserem Haus – in größeren Abständen zwar, aber immer noch zahlreich – stattfanden. Immerhin war das Bildchen, spät aber doch, in mein Bewusstsein gerückt. Hin und wieder dachte ich nun darüber nach, ob es wirklich ein Original sei, und wenn ja, was es wert sein könne, ob wir es vielleicht reinigen lassen sollten oder einer anderen Fachperson zeigen.
Jahre später, mein Vater war inzwischen verstorben, ergab sich für mich die Gelegenheit, das Gauermann-Museum in Miesenbach zu besuchen und das Bild kam mir wieder in Erinnerung. Ich begann, mich ein wenig mit der Biedermeier-Malerei im Allgemeinen und Friedrich Gauermann im Speziellen zu beschäftigen. Natürlich, so stellte ich bald fest, hatten auch andere Maler wie etwa Thomas Ender und Joseph Feid Bächlein, Kühe und Bäuerinnen mit roten Halstüchern gemalt. Sogar Friedrich Gauermanns Bruder Carl, der im Alter von nur 24 Jahren verstarb, war Maler gewesen und hatte ähnliche Sujets bearbeitet.
Bei meinem nächsten Besuch in der Heimat betrachtete ich das Bild zum ersten Mal genau. Gleich erschien mir der Pinselstrich ein wenig grobschlächtig, die Wolken nicht von Gauermann'scher Duftigkeit, die Tiere ungelenk, die Farben falsch. Vielleicht aber war bloß der Firnis vergilbt und die über viele Jahrzehnte angesammelte Schmutzschicht, die das Bild bedeckte, hatte alles Feine im Bild ruiniert. Von einer Unterschrift war nichts zu sehen – allerdings wagte ich nicht, das Bild auszurahmen. Das Rätsel blieb also bestehen.
2
Am 29.06.1897 schreibt der Autor Karl May in das Gästebuch eines Tiroler Bauernhofes folgendes Gedicht:
Am Achensee, am Achensee,
Da steht ein wundersames Haus;
So oft hinein, hinein ich geh,
Sehn' ich mich nimmermehr hinaus.
Am Achensee, am Achensee,
Da steht ein wundersames Haus;
Es thut so weh, es thut so weh,
Daß ich doch wieder muß hinaus.
Es wohnen Herzen da, so lieb,
So edel, ohne Falsch, so gut;
So oft ich blieb, so lang ich blieb,
Stets ständ ich da in Gottes Hut.
Und schrieb ich tausend Zeilen hier,
Und wären sie auch noch so schön,
Sie klängen aus der Seele mir
Doch nur auf baldges Wiedersehn.
Du lieber, lieber Kreuzhof hast
Es mir für immer angethan;
Ich wünsche fast, ich wünsche fast;
Wär ich für dich doch der Kaplan.
Da früg ich alle Herzen aus,
Und gäben sie mir Antwort dann,
Daß immer offen mir dies Haus,
Ich wär ein glücklich froher Mann!
Der erwähnte Kreuzhof befand sich zu jener Zeit im Besitz der Gräfin Anna Elisabeth Jankowics (1859 – 1937), die ihn bereits im Jahr 1892 erworben hatte. Obwohl sie sich die meiste Zeit in ihrem an den Belvedere-Garten in Wien angrenzenden Wohnhaus aufhielt, lud sie den schon zu Lebzeiten berühmten Schriftsteller ein, am Achensee Station zu machen und sie dort auf seiner nächsten Rundreise zu besuchen. Ende Juni des Jahres 1897 traf Karl May ein. Er blieb zwei Tage am Achensee. Allem Anschein nach hinterließ der kurze Aufenthalt einen bleibenden Eindruck, vor allem die Abschiedsveranstaltung zu seinen Ehren, bei der ein vierstimmiger Chor, der auf Booten im See verteilt und in das farbige Licht eines von der Gräfin veranstalteten Feuerwerks getaucht war, Mays „Ave Maria“ zum Besten gab – jenes Gedicht, das in der Erzählung „Im wilden Westen Nordamerikas“ von deutschen Siedlern für den sterbenden Apachen-Häuptling Winnetou gesungen wurde. (Schließlich konvertierte er am Sterbebett zum Christentum.) Karl May war tief berührt und sprach noch Jahre später über das Ereignis. Die Freundschaft zwischen Jancowics und May sollte Jahre andauern, bereits am 2. September 1897 schrieb sie ihm anlässlich Winnetous Todestag tröstende Worte und lud ihn nach Wien ein. Ein Jahr später feierte er dort seinen Geburtstag. Im Jahr 1902 kehrte Karl May noch einmal an den Achensee zurück, über einen weiteren Besuch am Kreuzhof ist allerdings nichts bekannt.
Der Zufall wollte es, dass Gräfin Jankowics nicht nur mit Karl May, sondern auch mit meinen Großeltern väterlicherseits eng befreundet war. Und so verbrachten diese, gemeinsam mit ihren Kindern (meinem Vater und seiner Schwester), über viele Jahre hinweg traditionell die Sommer am Achensee bei der Bauernfamilie, die den Kreuzhof bewirtschaftete – auch noch nachdem Jancowics den Kreuzhof 1930 an einen Salzburger Arzt verkauft hatte. Später erinnerte sich mein Vater gerne an jene Zeit der „Sommerfrische“, an die schweisstreibende Heuernte, das eisige Wasser des Achensees, das gemeinsame Abendessen aus der großen Pfanne – jeder brachte seinen eigenen Löffel mit –, an den Altbauern, der still auf der Ofenbank lag und an die ruhigen Abendstunden, an denen die Grillen einen in den Schlaf zirpten. Und daran, dass man ihn, den kleinen Hansi, als einzigen mit Kasimir in den Wald zu schicken wagte, um Holz zu holen mit der Axt, denn Kasimir, so wusste man, konnte meinen Vater gut leiden und würde ihm kein Leid zufügen. Kasimir, der einst in seiner Heimatstadt Warschau, als kaum Sechzehnjähriger, am Weg zur Arbeit von Deutschen Soldaten gefangen genommen, in einen Transportwaggon gepfercht und erst Tage später, in Tirol, wieder heraus gelassen worden war. Und der dann, wie am Viehmarkt (womöglich tatsächlich am Viehmarkt!), von den ansässigen Bauern begutachtet und ausgewählt worden war und so schließlich auf den Kreuzhof kam, für die nächsten Jahre seines Lebens. Und der nun in stillem Groll der ihm aufgezwungenen Arbeit nachging, wortkarg bei Tische saß und vor dem sich alle fürchteten.
Mein Vater, der nie, schon als Kind nicht, ein großer Karl May-Anhänger gewesen war, erinnerte sich auch an das oben zitierte Gedicht „Am Achensee“, das er und die Bauernkinder im Gästebuch entdeckt hatten, und das, wann immer er Teile davon, als Erwachsener noch, seinen Freunden in theatralisch-überhöhtem Ton vortrug, für herzliches Lachen sorgte. Zu diesem Zeitpunkt war die Gräfin Jankowics schon lange tot, und eben diese Gräfin hatte meiner Großmutter, ihrer Freundin, das gegenständliche Ölbild vermacht, gemeinsam mit zwei weiteren kleinformatigen Gemälden und den eingangs erwähnten Bauerntruhen, welche wiederum mein Vater erbte und die noch heute im Wohnzimmer stehen. Wie das Bild in den Besitz Gräfin Jankowics' gekommen ist, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, die Spur verliert sich und seine Provenienz bleibt letztlich ungeklärt.
3
Die vorliegenden Fotografien der Serie MEIN GAUERMANN sind also inspiriert von einem Bild Friedrich Gauermanns, das vielleicht gar keines ist. Sie sind dem Schaffen des Meisters nachempfunden, genauso wie das Bild meines Vaters ihm möglicherweise nur nachempfunden ist – jedoch in meinem Fall nicht in der Absicht, es zu kopieren, sondern um eine ihm innewohnende, zeitlose Qualität wiederzubeleben. Diese Qualität ist am ehesten als Versuch zu beschreiben, verschiedene Erscheinungsformen von Natur, von Geologie und Botanik, von Landschaft also, direkt und „unverblümt“, darzustellen und so einer Art „ungefilterter“ Naturliebe zu huldigen, welche Gauermann und ganz allgemein die Maler des Biedermeier noch mit einer Selbstverständlichkeit zur Schau stellen konnten, die heute zumindest naiv erscheint. Das gilt vor allem für jene wenigen Bilder in Gauermanns Werk, in denen er auf die Darstellung von Mensch und Tier gänzlich verzichtet, also die Notwendigkeit einer „Geschichte“, eines Dramas oder wenigstens eines „besonderen“ Ereignisses in Abrede stellt. Es sind Bilder, in denen nichts passiert, die sich sozusagen selbst genügen. „Landschaft mit den Balbersteinen bei Miesenbach“, „Fichte mit Luftwurzel“ oder „Felsblock an einem Bach“ sind Beispiele hierfür. Wo Gauermann in seinen weit bekannteren Gemälden wie „Wölfe reissen einen Hirsch“ oder „Adler und sterbender Hirsch“ den ewigen Überlebenskampf thematisiert, verzichtet er in diesen Bildern auf alles Dramatische, es gibt kein aufkommendes Unwetter, keine Sturmnacht, keine Dorfhochzeit, keinen Viehmarkt, keinen Abschied. Doch genau diese Ereignislosigkeit ist es, die den Bildern ihre Kraft verleiht, denn sie scheint den Blick frei zu machen für etwas Wesentliches, welches man zwar augenblicklich erkennen, aber nicht leicht beschreiben kann.
Ging es Friedrich Gauermann in diesen Bildern um nichts anderes als die „ideale Landschaft“, so scheint es heute unmöglich, in der Landschaftsfotografie frei von Symbolik zu bleiben – gilt uns die Natur per se doch als das Gegenstück zu einem ignoranten Homo Sapiens. Die Landschaft selbst ist bereits das Symbol, sie steht quasi unweigerlich als Metapher für das „Richtige“, das „Reine“, so wie es „eigentlich gehören würde“, wäre da nicht der Mensch, der das „empfindliche Gleichgewicht“ stört, die Umwelt „verschmutzt“, ja, sie nicht einmal zu schützen vermag. Alles soll so bleiben, wie es ist, wünschen sich heute die Meisten, oder besser noch: wieder so werden, wie es war, damals, in den „guten, alten Zeiten“. Dieser Sehnsucht liegt jedoch ein ebenso naiv-romantischer Gedanke zugrunde wie der Suche Gauermanns nach einem in Wahrheit nicht existierenden Landschaftsideal, ignoriert sie doch die Tatsache, dass Veränderung stets und unweigerlich stattfindet, ja stattfinden muss, um Leben zu ermöglichen. Und sie verkennt, dass den „guten, alten Zeiten“ immer weitere, noch ältere und noch bessere Zeiten vorausgegangen sind. Die guten, alten Zeiten gibt es nur in der jeweils gegenwärtigen Verklärung. Ziel kann also nicht das Erhalten irgendeines imaginierten Status Quo sein, vielmehr muss schlicht der grundlegende Respekt vor dem Vorhandenen, Existierenden als oberste Maxime gelten. Dieser Respekt hat sorgsames Umgehen mit der Natur zwangsläufig zur Folge und er beginnt mit dem anerkennenden, ja bewundernden Blick, dem oben erwähnten Blick für das Wesentliche.
Wie aber diesem Anspruch fotografisch gerecht werden? Wie vermeiden, anachronistisch zu wirken? Ist die Serie MEIN GAUERMANN nichts weiter ist als der Rückfall in ein neues Biedermeier? (Der Ausdruck „Biedermeier“ war schon immer ein Spottwort, von Beginn an, und er ist es über die Jahrhunderte geblieben.) Bloßer Eskapismus also?
Das redliche Bemühen, sich Gauermann anzunähern und somit eine „gültige“, auf das Wesentliche fokussierende Formsprache zu finden, lässt sich nicht auf ein bloßes stilistisches Nachahmen reduzieren. Es sind zwar einzelne Bildelemente wie ein Ast, ein Fels, eine Silhouette, die sich in den Fotografien wiederfinden, oft sogar im Mittelpunkt stehen und somit nach wie vor Form und Inhalt maßgeblich bestimmen, diese Elemente müssen aber mit den Mitteln der Zeit ins Heute geholt werden und sich so auf ihre aktuelle Gültigkeit überprüfen lassen. Die Bilder der vorliegenden Serie sind bewusst mit dem Mobiltelefon fotografiert und stellen auf gewisse Weise ein Gegenstück zum langwierigen, aufwändigen Malprozess Friedrich Gauermanns dar, der für ein Gemälde nicht selten mehrere Skizzen anfertigte. Der Vorgang des Fotografierens sollte schnell, organisch und wie selbstverständlich vonstatten gehen, dem erwähnten „augenblicklichen Erkennen des Wesentlichen“ entsprechend. Die Suche nach den geeigneten Motiven stellte sich hingegen als äußerst langwieriger, über einige Jahre andauernder Prozess heraus. Das mag daran liegen, dass die geeigneten Orte seltener geworden sind, vielleicht aber auch an der Tatsache, dass das Erkennen des Wesentlichen in der Natur von mir erst wieder erlernt werden musste. Es ist ein intuitiver, wie erwähnt unvermittelt eintretender Bewusstseinszustand des „Stimmens“, der, obwohl nicht weiter erklärbar, nichts Esoterisches an sich hat. Mit der Übung nehmen Präzision und Treffsicherheit des Sehens zu und die künstlerischen Entscheidungen fallen leichter. Andererseits scheint für eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem Thema eine gewisse Überhöhung, eine Abstrahierung notwendig, konkret die „unnatürliche“ Gelbfärbung der Aufnahmen, die zunächst „falsch“ wirkt, vielleicht ähnlich höchstens in epochentypischen Abendbildern romantischer Maler wie Iwan Iwanowitsch Schischkin oder Carl Gustav Carus zu finden ist, die im vergilbten Firnis des Gauermann-Bildes meines Vaters aber ihren eigentlichen Ursprung hat.
Alles ist auf dieses unscheinbare, kleine Ölbild, das in einem schlichten Goldrahmen über dem Bücherregal im Wohnzimmer hängt, zurückzuführen – Farbe, Form, Inhalt. Und so stellt sich auch nicht mehr die Frage, ob es „echt“ ist oder nicht, ob ein Plagiat, eine Fälschung oder eben doch ein Gauermann. Es spielt keine Rolle, denn im Sinne einer zeitlosen Qualität, einer Konzentration auf das Wesentliche, erfüllt es alle Kriterien.
Ich hoffe, dies trifft auch auf die vorliegende Serie zu.