Ein Wand im Kloster
Dieses Foto zeigt jenen Bereich im Kloster der Töchter des Heiligsten Herzen Jesu in Hall in Tirol, in welchen Besucher vorgelassen werden. Als mein Vater vor vielen Jahren mit der Vollstreckung eines Testaments betraut wurde, erfuhr er, dass eine der Töchter des Verstorbenen in das Kloster des Heiligsten Herzen Jesu eingetreten und zu einer im Volksmund so genannten „weißen Taube“ geworden war. Schwester Hildegard, wie sie nunmehr hieß, hatte seit Jahren das Kloster nicht verlassen – mit dem Eintritt in die Ordensgemeinschaft verzichten die Schwestern auf jeglichen Kontakt zur Aussenwelt.
Schwester Hildegard hatte Geld geerbt und obwohl mein Vater wusste, dass es Männern nicht gestattet ist, das Kloster zu betreten, wollte er die nicht unbeträchtliche Summe der Erbin persönlich, und nicht wie vorgeschlagen der Schwester Oberin, übergeben. Dieser Wunsch wurde zunächst abgelehnt, mein Vater bestand jedoch darauf – wie er später zugab, auch aus einer gewissen Neugierde heraus, etwas über den Zustand bzw. die Veränderung Schwester Hildegards, die er lange zuvor, noch in ihrem weltlichen Dasein, kennen gelernt hatte, in Erfahrung zu bringen.
Man einigte sich darauf, sich in dem oben erwähnten Besucherzimmer zu treffen, getrennt durch eine raumhohe, hölzerne Wand. Mein Vater erledigte sämtliche Formalitäten durch eine Öffnung in dem Gitter und händigte schließlich das Geld an Schwester Hildegard aus, die, so erzählte er später, einen munteren und nicht unzufriedenen Eindruck machte. Mein Vater verabschiedetet sich und sah noch im Gehen, wie die Schwester Oberin Schwester Hildegard in der Türe erwartete, ihr das Geld abnahm und in einer Ärmeltasche verschwinden ließ.
Christoph Mayr, Februar 2018